3.8.2.: Einstufungskriterien für Stoffe

3.8.2.1. Stoffe der Kategorie 1 und der Kategorie 2
3.8.2.1.1 Stoffe werden jeweils nach ihren unmittelbaren oder verzögerten Wirkungen eingestuft, und zwar mit Hilfe des Urteils von Experten (siehe Abschnitt 1.1.1.) auf der Grundlage einer Gewichtung aller verfügbaren Nachweise, wobei auch die empfohlenen Leitwerte (siehe Abschnitt 3.8.2.1.9) herangezogen werden. Danach werden die Stoffe je nach Art und Schwere der beobachteten Wirkung/-en der Kategorie 1 oder 2 zugeordnet (siehe Tabelle 3.8.1).
3.8.2.1.2. Der/die relevante/-n Expositionsweg/-e sind zu ermitteln, über den/die der eingestufte Stoff Gesundheitsschäden hervorruft (siehe Abschnitt 3.8.1.5.).
3.8.2.1.3 Für die Einstufung ist eine Beurteilung durch Experten (siehe Abschnitt 1.1.1) auf der Grundlage einer Ermittlung der Beweiskraft aller verfügbaren Daten sowie der nachstehenden Kriterien maßgeblich.
3.8.2.1.4 Der Nachweis spezifischer zielorgantoxischer Wirkungen, die eine Einstufung erforderlich machen, erfolgt durch eine Ermittlung der Beweiskraft aller Daten (siehe Abschnitt 1.1.1), einschließlich von Fallstudien sowie epidemiologischer Daten und Tierstudien.
3.8.2.1.5 Die für die Bewertung der spezifischen Zielorgan-Toxizität erforderlichen Informationen stammen entweder von einmaligen Expositionen beim Menschen, beispielsweise häuslicher Exposition, Exposition am Arbeitsplatz oder in der Umwelt, oder aus tierexperimentellen Studien. Standardtierversuche an Ratten oder Mäusen, anhand derer sich die toxischen Wirkungen auf die Zielgewebe/-organe ermitteln lassen, sind akute Toxizitätsstudien, die klinische Beobachtungen sowie detaillierte makroskopische und mikroskopische Untersuchungen umfassen können. Auch Daten aus Studien zur akuten Toxizität an anderen Tierarten können relevante Informationen erbringen.
3.8.2.1.6 In Ausnahmefällen ist es aufgrund der Beurteilung durch Experten angezeigt, bestimmte Stoffe, bei denen es Nachweise für eine spezifische Zielorgan-Toxizität beim Menschen gibt, in die Kategorie 2 einzustufen:
a) wenn die Erfahrungen beim Menschen nicht hinreichend beweiskräftig für eine Einstufung in die Kategorie 1 sind, und/oder
b) aufgrund von Art und Schwere der Wirkungen.

Dosen/Konzentrationswerte beim Menschen sind normalerweise bei der Einstufung nicht zu berücksichtigen und alle verfügbaren Befunde aus Tierstudien müssen mit der Einstufung in die Kategorie 2 vereinbar sein. Mit anderen Worten: Sind zu dem Stoff auch Tierversuchsdaten verfügbar, die eine Einstufung in die Kategorie 1 rechtfertigen, ist der Stoff in die Kategorie 1 einzustufen.

3.8.2.1.7 Wirkungen, die als Argument für eine Einstufung in die Kategorien 1 und 2 gelten
3.8.2.1.7.1 Für eine Einstufung sprechen Befunde, die eine einmalige Exposition gegenüber dem Stoff mit einer übereinstimmenden und identifizierbaren toxischen Wirkung in Zusammenhang bringen.
3.8.2.1.7.2 Erfahrungen beim Menschen sowie zum Beispiel Fallstudien beschränken sich üblicherweise auf Berichte über gesundheitsschädliche Wirkungen mit häufig unklaren Expositionsbedingungen und bieten unter Umständen nicht die wissenschaftlichen Einzelheiten, die aus ordnungsgemäß durchgeführten Tierstudien erschlossen werden können.
3.8.2.1.7.3 Befunde aus geeigneten Tierstudien können in Form klinischer Beobachtungen sowie makroskopischer und mikroskopischer pathologischer Untersuchungen weitaus mehr Details erbringen, so dass häufig Gefahren erkennbar werden, die zwar nicht lebensbedrohlich sind, jedoch auf eine funktionelle Störung hindeuten. Daher müssen sämtliche verfügbaren Befunde und ihre Relevanz für die menschliche Gesundheit im Einstufungsprozess berücksichtigt werden; dazu gehören unter anderem folgende Wirkungen bei Mensch und/oder Tier:
a) Morbidität nach einmaliger Exposition;
b) eindeutige funktionelle Veränderungen, die mehr als nur vorübergehend in Respirationstrakt, zentralen oder peripheren Nervensystem, in anderen Organen oder Organsystemen, einschließlich von Anzeichen einer Depression des zentralen Nervensystems und Wirkungen auf Sinnesorgane (beispielsweise Seh-, Hör- und Geruchsvermögen) auftreten;
c) alle übereinstimmenden und eindeutigen Veränderungen von klinisch-chemischen, hämatologischen oder Harnparameter;
d) eindeutige Organschäden, die bei der Autopsie festgestellt und/oder anschließend bei der mikroskopischen Untersuchung erkannt oder bestätigt werden;
e) Multifokale oder diffuse Nekrosen, Fibrosen oder Granulome in lebenswichtigen Organen mit Regenerationsvermögen;
f) morphologische Veränderungen, die möglicherweise reversibel sind, aber eindeutig auf eine ausgeprägte organische Funktionsstörung hinweisen;
g) Anhaltspunkte für ein relevantes Absterben von Zellen (einschließlich Zelldegeneration und Reduzierung der Zellzahl) in lebenswichtigen Organen, die nicht zur Regeneration fähig sind.
3.8.2.1.8 Wirkungen, die nicht als Argument für eine Einstufung in die Kategorien 1 und 2 gelten
Es ist zu erwähnen, dass auch Wirkungen auftreten können, die eine Einstufung nicht rechtfertigen. Dabei handelt es sich unter anderem um folgende Wirkungen bei Mensch und/oder Tier:
a) klinische Beobachtungen oder geringfügige Veränderungen der Gewichtszunahme, Nahrungs- oder Wasseraufnahme, die zwar toxikologisch bedeutsam sein können, jedoch als solche nicht auf eine „eindeutige“ Toxizität hindeuten;
b) geringfügige Veränderungen von klinisch-chemischen, hämatologischen oder Harnparametern und/oder vorübergehende Wirkungen von unklarer oder minimaler toxikologischer Bedeutung;
c) Organgewichtsveränderungen ohne Anzeichen einer organischen Funktionsstörung;
d) adaptive Reaktionen, die nicht als toxikologisch relevant gelten;
e) substanzinduzierte tierartspezifische Toxizitätsmechanismen, für die mit hinreichender Sicherheit nachgewiesen wurde, dass sie für die menschliche Gesundheit nicht relevant sind, begründen keine Einstufung.
3.8.2.1.9 Richtwerte als Einstufungshilfe bei Kategorie 1 und 2 auf der Grundlage von Befunden aus tierexperimentellen Studien
3.8.2.1.9.1 Als Hilfe bei der Entscheidung, ob und nach welchem Schweregrad (Kategorie 1 oder Kategorie 2) ein Stoff einzustufen ist, werden Dosis-/Konzentrations-„Richtwerte“ zur Berücksichtigung der Dosis/Konzentration festgelegt, bei der eindeutige Auswirkungen auf die Gesundheit festgestellt wurden. Hauptargument für solche Richtwerte ist, dass alle Stoffe potenziell toxisch sind und dass es eine bestimmte Dosis/Konzentration geben muss, oberhalb derer eine gewisse toxische Wirkung unstrittig ist.
3.8.2.1.9.2 Werden also bei Tierstudien eindeutige toxische Wirkungen beobachtet, die zu einer Einstufung führen, dann ergibt ein Vergleich der Dosis/Konzentration, bei der diese Wirkungen auftraten, mit den vorgeschlagenen Richtwerten, nützliche Informationen, die dabei helfen können zu beurteilen, ob eine Einstufung erforderlich ist (da die toxischen Wirkungen eine Folge der gefährlichen Eigenschaft/-en und der Dosis/Konzentration sind).
3.8.2.1.9.3 Die Richtwertbereiche (C) für die Einzeldosis-Exposition mit eindeutiger nichtletaler toxischer Wirkung entsprechen denjenigen für Prüfungen zur akuten Toxizität (siehe Tabelle 3.8.2).


Tabelle 3.8.2

Richtwertbereiche nach Einzeldosis-Exposition

 

Leitwertbereiche für:

Expositionsweg

Maßeinheiten

Kategorie 1

Kategorie 2

Kategorie 3

oral (Ratte)

mg/kg Körpergewicht

C ≤ 300

2 000 ≥ C > 300

Es gelten keine Richtwerteb

dermal (Ratte oder Kaninchen)

mg/kg Körpergewicht

C ≤ 1 000

2 000 ≥ C > 1 000

inhalativ (Ratte) Gas

ppmV/4h

C ≤ 2 500

20 000 ≥ C > 2 500

inhalativ (Ratte) Dampf

mg/l/4h

C ≤ 10

20 ≥ C > 10

inhalativ (Ratte) Staub/Nebel/Rauch

mg/l/4h

C ≤ 1,0

5,0 ≥ C > 1,0

Hinweis:

a) Die in der Tabelle 3.8.2 genannten Richtwerte und -bereiche sind lediglich Anhaltspunkte, d. h. sie sind für die Ermittlung der Beweiskraft zu verwenden und dienen als Entscheidungshilfe bei der Einstufung. Sie sind nicht als streng abgrenzende Werte gedacht.
b) Für Stoffe der Kategorie 3 werden keine Richtwerte angegeben, da die Einstufung hier überwiegend auf Erfahrungen beim Menschen beruht. Falls Tierversuchsdaten verfügbar sind, sind diese in der Ermittlung der Beweiskraft zu berücksichtigen.
3.8.2.1.10 Sonstige Erwägungen
3.8.2.1.10.1 Ist ein Stoff lediglich anhand tierexperimenteller Daten charakterisiert (dies ist typisch für neue Stoffe, gilt jedoch auch für zahlreiche Altstoffe), werden im Einstufungsverfahren zur Ermittlung der Beweiskraft unter anderem die Richtwerte für die Dosis/Konzentration herangezogen.
3.8.2.1.10.2 Stehen fundierte Erfahrungen beim Menschen zur Verfügung, die eine spezifische Zielorgan-Toxizitätswirkung belegen, welche zuverlässig einer einmaligen Exposition gegenüber einem Stoff zugeschrieben werden kann, ist der Stoff in der Regel einzustufen. Positive Erfahrungen beim Menschen, unabhängig von der wahrscheinlichen Dosis, sind gegenüber tierexperimentellen Daten höherrangig. Wird ein Stoff nicht eingestuft, weil die beobachtete spezifische Zielorgan-Toxizität als beim Menschen nicht relevant oder eindeutig angesehen wurde, so ist dieser Stoff in der Regel dann doch einzustufen, falls zu einem späteren Zeitpunkt Daten über Fallstudien verfügbar werden, die eine spezifische Zielorgan-Toxizität zeigen.
3.8.2.1.10.3 Ein Stoff, der nicht auf seine spezifische Zielorgan-Toxizität geprüft wurde, kann gegebenenfalls anhand folgender Elemente eingestuft werden: Daten aus einer gesicherten Struktur-Wirkungs-Betrachtung und einer auf der Beurteilung durch Experten basierenden Extrapolation zu einem strukturell verwandten, bereits eingestuften Analogon sowie unter Berücksichtigung weiterer wichtiger Faktoren wie der Bildung gemeinsamer bedeutsamer Metaboliten.
3.8.2.1.10.4 Die Sättigungsdampfkonzentration ist, wenn dies angezeigt ist, als zusätzliches Element zum Gesundheitsschutz heranzuziehen.
3.8.2.2. Stoffe der Kategorie 3: reversible Wirkungen auf Zielorgane
3.8.2.2.1 Kriterien für die Reizung der Atemwege
Für die Einstufung von Stoffen in die Kategorie 3 aufgrund einer Reizung der Atemwege sind folgende Kriterien maßgeblich:
a) Atemwegsreizende Wirkungen (gekennzeichnet durch örtlich begrenzte Rötungen, Ödeme, Juckreiz und/oder Schmerzen), die zu einer funktionellen Beeinträchtigung führen, die mit Symptomen wie Husten, Schmerzen, Atemnot und allgemeinen Atembeschwerden einhergehen. Die Beurteilung beruht hauptsächlich auf Humandaten.
b) Subjektive Beobachtungen beim Menschen können durch Quantifizierung einer eindeutigen Atemwegsreizung gestützt werden (beispielsweise Messung von elektrophysiologischen Reaktionen, von Biomarkern einer Entzündungsreaktion in nasaler oder Bronchi-alveolärer Lavage).
c) Die am Menschen beobachteten Symptome müssen auch typischen Symptomen in der exponierten Population entsprechen und dürfen keine isolierte idiosynkratische Reaktion sein und nicht nur bei Individuen mit überempfindlichen Atemwegen auftreten. Vage Berichte von lediglich einer „Reizung“ bleiben unberücksichtigt, da mit diesem Begriff gewöhnlich vielfältige Sinneseindrücke wie Geruch, unangenehmer Geschmack, Kribbeln und Trockenheit beschrieben werden, die nicht für die Einstufung aufgrund einer Reizung der Atemwege relevant sind.
d) Es gibt derzeit keine validierten Tierversuchsmodelle zur Erfassung einer Atemwegsreizung; nützliche Informationen können aber aus den Prüfungen auf Inhalationstoxizität nach einmaliger und wiederholter Exposition gewonnen werden. Beispielsweise können Tierversuche nützliche Informationen im Zusammenhang mit klinischen Vergiftungserscheinungen (Dyspnoe, Rhinitis usw.) und histopathologischen Untersuchungen (z. B. Hyperämie, Ödem, geringe Entzündung, verdickte Schleimschicht) liefern. Solche tierexperimentellen Studien können im Rahmen der Ermittlung der Beweiskraft herangezogen werden.
e) Diese spezielle Einstufung erfolgt nur dann, wenn keine schwerwiegenderen Wirkungen auf Organe, darunter auch auf das Respirationssystem, beobachtet werden.
3.8.2.2.2 Kriterien für narkotisierende Wirkungen
Für die Einstufung von Stoffen in die Kategorie 3 aufgrund ihrer narkotisierenden Wirkung sind folgende Kriterien maßgeblich:
a) Depression des zentralen Nervensystems einschließlich narkotisierender Wirkungen beim Menschen wie beispielsweise Schläfrigkeit, Narkosewirkung, verminderte Aufmerksamkeit, Reflexverlust, Koordinationsschwäche und Schwindel. Diese Wirkungen können sich auch als schwere Kopfschmerzen oder Übelkeit äußern und zu vermindertem Urteilsvermögen, Benommenheit, Reizbarkeit, Müdigkeit, Gedächtnisstörungen, Wahrnehmungs- und Koordinierungsschwächen sowie zu Reaktionsverzögerung oder Schläfrigkeit führen.
b) Zu den in tierexperimentellen Studien beobachteten narkotisierenden Wirkungen gehören auch Lethargie, Koordinationsmangel, Verlust des Stellreflexes und Ataxie. Sind diese Wirkungen nicht vorübergehender Art, dann ist davon auszugehen, dass sie zu einer Einstufung als spezifisch zielorgantoxisch (einmalige Exposition) der Kategorie 1 oder 2 führen.